2. Das Künstlerhaus existiert nicht.
Januar 2013

Euch gibt es gar nicht“, sagte meine Freundin, die mich kürzlich im Künstlerhaus besuchen wollte. Und es ist nicht das erste Mal, dass ich das höre, denn wer „Horb, Wintergasse 1“ in sein Navigationssystem eintippt, bekommt genau diese Fehlermeldung: ERROR - keine Übereinstimmung gefunden, Route kann nicht berechnet werden oder schlicht: Wintergasse 1 existiert nicht. Meine Freundin ist pfiffig und überlistete ihr Navi, indem sie „Wintergasse 2“ eingab, denn es erschien ihr nahe liegend. Und so mussten wir uns nicht wieder mit langen Telefongesprächen begnügen, sondern konnten uns ganz persönlich in die Arme fallen.

So wie meiner Freundin geht es vielen anderen vor Ort auch. Also nicht, dass ich ihnen gleich um den Hals falle, sondern dass das neuerdings ganz lebendige Treiben zu Füßen der Horber Klostermauern für sie einfach noch nicht existiert.
So parkte neulich ein Rollerfahrer sein motorisiertes Zweirad auf unserer Traum-Terrasse und schien sichtlich überrascht über meine Anwesenheit. Ich begrüßte ihn neugierig und wollte wissen, wen von uns dreien er mit seinem Besuch erfreuen wolle. „Ich habe bisher immer hier geparkt“, sagte er daraufhin nur und winkte mit einem offiziellen Schreiben Richtung Amtsgericht. Aber irgendetwas veranlasste ihn wohl doch zur Umschau, denn er stellte sogleich erstaunt fest: „hier ist jetzt etwas anders, nicht?“.
Wer will’s ihm verübeln? Es gibt andere, die kommen alleine der schönen Aussicht wegen her. Und es stellt überhaupt kein Problem für sie dar, wenn wir zu dieser Zeit mit Kaffeebechern in der Hand und Butterbrezeln im Mund mit unserem Frühstück nebenan noch nicht ganz fertig sind. Nein, auch auf Nachfrage nicht. „Wir wollten nur mal gucken“, lautet die Antwort Nummer eins auf unserer Strichliste.
Im Allgemeinen ist man hier nämlich sehr nachsichtig und sieht nicht nur äußerst gelassen über die unangemessen fortgeschrittene Stunde unseres ersten Vespers hinweg, sondern gesteht uns das Anders-Sein als solches auch sonst gerne zu. Denn schließlich ist das Künstlerhaus, wie ich hörte, eine neue Attraktion in Horb und wir die dazu gehörigen Akteure. Und wir sind das gerne. Wenn zum Beispiel einer von uns dreien die Stahltreppe hinabsteigt, die unsere Künstlerappartements mit dem Atelier im Erdgeschoss verbindet, tönt so manches Mal ein „guck mal, ein Künstler!“ aus der Grabenbachgasse zu uns herauf. Und wir lächeln dann freundlich und winken in diese Richtung, und die jungen Mütter lächeln dann verlegen zurück und nehmen ihre Sprösslinge an die Hand, um mit ihnen weiter zu gehen. Aber die Kinder blinzeln nur mit großen Augen und offenen Mündern zu uns herauf und sind schwer fort zu reißen, denn sie haben soeben wieder etwas gelernt.
Aber - das muss ich doch ganz ehrlich zugeben - meistens sind wir es, die hier etwas dazu lernen. So zum Beispiel, dass wenn Raben hoch auf der Kirchturmspitze sitzen und schreien, es am nächsten Tag garantiert regnet. Dass „HOR“ und „FDS“ zusammen nur FROHSD ergeben oder dass der Advent hier nur drei Tage dauert. Letzterer wiederum am Neckarufer nun viel schöner wäre, als er es früher auf dem Historischen Markt gewesen war, weil man das stimmungsvolle Ambiente dort oben gar nicht richtig genießen konnte - und zwar wegen der vielen Glühweinbuden, die direkt vor den schmucken Häusern dort aufgereiht standen. Ich habe es mir diesen Winter zum ersten Mal angeschaut – und es stimmt: die kühle Atmosphäre auf dem Flößerwasenparkplatz ist zwar wenig „heimelig“, man hat dafür aber den unverstellten Blick auf die bezaubernde Altstadtkulisse hoch oben auf dem Berg. Das steigert sicher erheblich den Glühweinkonsum und senkt – da bereits im Tal - das Unfallrisiko beim anschließenden Nachhauseweg. Ein weiterer Beweis dafür, dass es nicht immer stimmt, dass früher alles besser gewesen war. In diesem ganz speziellen Fall bilden die Erfahrungen derjenigen natürlich eine Ausnahme, die in der Altstadt auf eben diesem Berg wohnen, wie zum Beispiel wir drei aus dem Künstlerhaus. Leichtenherzens und voller Vorfreude auf einen gemütlichen Abend die Stufen hinabeilen fällt uns stets viel leichter als der Wiederaufstieg mit schwerem Kopf zur späteren Stunde. Das weckt schnell Erinnerungen an Schülerfreizeiten in Jugendherbergen: aus irgendwelchen Gründen lagen diese damals auch immer hoch oben auf einer Anhöhe, zu der es abends garantiert keine Busverbindung mehr gab. Doch im Gegensatz zu früher müssen wir jetzt nicht mehr spätestens um acht wieder im Haus sein, und Bettruhe um zehn fällt auch aus.
Wir wissen daher die Gelassenheit im Umgang mit unseren ungewöhnlichen Arbeits- und Mahlzeiten sehr zu schätzen und freuen uns tatsächlich jedes Mal wirklich über neugierige, interessierte Besucher, denen wir unsere Sicht der Dinge gerne zeigen oder die uns selbst mit ihren Ansichten zum Staunen bringen. Aber auch alle, die „nur mal gucken wollen“ sind hier nach wie vor ganz herzlich willkommen. Und wenn am Künstlerhaus auch noch keine sichtbare Hausnummer angebracht ist, ist es ganz leicht, uns zu finden: wir sind hier in der Wintergasse die Nummer 1.

Text: Monika Golla 19.12.2012 ©

"Leben im toten Winkel der Navi-Geräte"
Schwarzwälder Bote, 18. April 2013

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